Aufnahme-Begrenzung für Flüchtlinge
Kreispolitik zwischen Kritik und Zustimmung
Reaktionen der Kreistagsfraktionen
VOGELSBERGKREIS · Die Vogelsberger Kreisspitze fordert eine Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen. Bei den Kreistagsfraktionen sorgt die Forderung für Zustimmung und Ablehnung – doch insbesondere die Wortwahl wird kritisiert.
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„Wir sind bald am Ende unserer Möglichkeiten“, sagte der Vogelsberger Landrat Manfred Görig in einer Pressemitteilung zu Beginn dieser Woche, in der er außerdem eine Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen forderte. Allein der Vogelsbergkreis nämlich soll bis Weihnachten weitere 457 Flüchtlinge – zusätzlich zu den geflüchteten Menschen aus der Ukraine – aufnehmen. Die Gemeinschaftsunterkünfte sind ab Anfang November allerdings voll, weshalb Container aufgestellt werden müssen. So reagieren die Kreistagsfraktionen auf die Forderungen von Landrat Manfred Görig und Erstem Kreisbeigeordneten Jens Mischak.
Die Linke/Klimaliste plädiert für rhetorische Abrüstung bei der Kreisspitze
Fraktionschef von Die Linke/Klimaliste Dietmar Schnell
„Fraglos sind die Kreise und Kommunen in Hessen unterfinanziert und es gibt auch räumliche Probleme, Geflüchtete unterzubringen“, erklärt Fraktionschef Dietmar Schnell. Bei aller berechtigten Kritik dürfe man aber nicht das „Kind mit dem Bade ausschütten“. Deutschland als eines der reichsten Länder der Erde habe alle Möglichkeiten, Menschen aufzunehmen, die vor Krieg und Verfolgung ins Land flüchten. Aus seiner Sicht gibt es keinen Grund, zu behaupten, Deutschland stoße bei der Flüchtlingshilfe an seine Grenzen. „Angesichts schon wieder brennender Flüchtlingsunterkünfte plädieren wir für eine rhetorische Abrüstung – auch und besonders der Kreisspitze“, so Schnell.
FDP drängt auf europäische Gesamt-Lösung
FDP-Fraktionsvorsitzender Mario Döweling im Vogelsberger Kreistag
Natürlich gebe es sowohl in Deutschland, als auch in den einzelnen Regionen eine Kapazitätsgrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Deshalb sei es wichtig, geflüchtete Menschen zu registrieren, um zu wissen, wer im Land ist. Das gelte für Geflüchtete aus der Ukraine genauso wie für den Rest der Welt. „Es ist Aufgabe des Bundes, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen und auch unsere Grenzen zu kontrollieren“, sagt FDP-Fraktionschef Mario Döweling. Insofern sei es ein Skandal und Behördenversagen, das gewissermaßen im Schatten des Ukraine-Krieges die Balkanroute wieder „geöffnet“ wurde. Hier müsse die Bundesregierung über Verhandlungen mit der Türkei und den Transitstaaten aktiv werden, um den weiteren Zuzug zu stoppen. „Eine Situation wie 2015 darf sich nicht wiederholen“, erklärt Döweling. Es sei völlig klar, dass der Bund hier auch die Kosten für Erstaufnahmeeinrichtungen und auch die dauerhafte Unterbringung zu tragen habe. „Schon im Sinne der Subsidiarität können wir im Vogelsberg nicht für etwas bezahlen, was wir politisch nicht steuern beziehungsweise entscheiden können“, so der FDP-Fraktionsvorsitzende. Solidarität für Geflüchtete gehört für die Freie Demokraten zur Bundesrepublik Deutschland – schon aufgrund der Geschichte. „Sie gehört aber aus unserer Sicht auch zur gesamten EU. Solidarität ist auch keine Einbahnstraße – deshalb muss die Bundesregierung im Rahmen eines der nächsten EU-Gipfel erneut auf eine europäische Lösung der gesamten Flüchtlingsfrage drängen“, fordert er. Das müsse natürlich auch im Kontext mit dem Ukraine-Krieg gesehen werden, aber es könne nicht sein, dass einige Staaten (vor allem in Osteuropa) sich nur dort engagieren und Deutschland beides schultern soll.
CDU: „Hilferuf“ der Kreisspitze war absehbar
CDU-Fraktionsvorsitzender Stephan Paule
Zunächst einmal müsse, so erklärt es CDU-Fraktionschef Stephan Paule, der Dank aller politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen den ehren- und hauptamtlichen Helfern gelten, die sich seit Beginn des Ukraine-Krieges um die immense Zahl an Geflüchteten gekümmert haben und weiterhin kümmern. Zur Wahrheit gehöre aber, dass die Zahl und Arbeitskraft dieser Helfer und alle weiteren Ressourcen, insbesondere Wohnraum, endlich seien. „Seit vielen Wochen wurde zudem deutlich, dass neben dem sich verringernden Zustrom an ukrainischen Flüchtlingen die Zahl derjenigen Geflüchteten, die aus dem Nahen Osten über die sogenannte ‚Balkan-Route‘ nach Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, unterwegs sind, erheblich zunimmt“, stellt Paule heraus. Es sei keine politische Einschätzungsfrage, sondern eine Frage der Tatsachen, dass viel mehr auf der Ebene der Gemeinden, Kreise und ihrer haupt- und ehrenamtlichen Helfer nicht mehr geschultert werden könne. Die Meldung der hauptamtlichen Verwaltungsspitze sei somit absehbar gewesen und spiegele die sich zuspitzende Situation wider. „Sie ist keine politisch motivierte Zuspitzung im Sinn eines politischen Apells an Wiesbaden und Berlin, sie ist ein Hilferuf. Wenn die Ressourcen zu Ende gehen, nützt ein ‚Ihr müsst aber‘ wenig“, erklärt der CDU-Fraktionschef. Ein weiterer – diesmal politischer – Gedanke sei jedoch der des europäischen Flüchtlingsregimes. Hart wurde 2015 und den Folgejahren um eine gerechte Verteilung der Lasten innerhalb der Länder der EU gerungen. Nicht alles sei optimal gelaufen. „Dennoch vermisse ich als überzeugter Europäer zurzeit dieses Ringen um Lösungen in der Frage der Menschen auf der Westbalkanroute“, so Paule. Das Thema müsse seinen Platz neben Ukraine-Krieg und Energiekrise bei den derzeitigen EU-Spitzengesprächen haben und insbesondere von der Bundesrepublik forciert werden.
Forderung nach Wechsel in der Migrationspolitik von SPD
SPD-Fraktionsvorsitzender Matthias Weitzel
„Niemand stellt die sich aus Grundgesetz, Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention ergebenden Rechte in Frage“, verteidigt SPD-Fraktionschef Matthias Weitzel die Aussagen der Kreisspitze. Allerdings dürfe man nicht verkennen, dass – auch durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – die schiere Anzahl an Flüchtlingen und Asylbewerbern aus zahlreichen Ländern das System an seine Grenzen bringe. Die Gesellschaft habe hier mit zahlreichen ehren- und hauptamtlichen Helfern in diesem Jahr großartiges geleistet. „Wir sehen aber zunehmend, dass wir – was die Beschaffung von Wohnraum und die angemessene Betreuung angeht – an unser Limit kommen“, so Weitzel. Helferinnen und Helfer seien nicht in unendlicher Anzahl vorhanden. Insofern sei der „Hilferuf“, der in dieser oder ähnlicher Form nicht nur von den hauptamtlichen Kreisspitzen im Vogelsberg komme, nachvollziehbar. Zumal die Kommunen schon seit Monaten auf diese Lage hinweisen. Fakt sei auch, dass, egal wer in Bund und Land regiert, die Hauptlast von den unteren Ebenen der Kreise und Kommunen und ihren guten Strukturen getragen werde. Hier seien die Kapazitäten endlich. „Unabhängig von der in 2022 vorherrschenden Flüchtlingswelle aus der Ukraine ist es höchste Zeit, einen Wechsel in der Migrationspolitik vorzunehmen. Deutschland wird in der Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein. Hier brauchen wir eine aktive und ordnende Politik, die Migration vorausschauend und realistisch gestaltet. Dies auf nationaler, besser noch europäischer Ebene“, erklärt Weitzel.
Verwunderung über deutliche Worte bei den Freien Wählern
Freie Wähler-Chef Lars Wicke
Die Entscheidungen zur Aufnahme von Flüchtlingen würden nicht durch die Kommunalverantwortlichen gefasst. In den Kommunen gelte es nur diese umsetzen. Lars Wicke erinnert an den Satz „Wir schaffen das“, den Bundeskanzlerin Angela Merkel in 2015 formulierte und attestierte, dass diese Aussage in vielen Kommunen nicht unterschrieben wurde. Etwas später habe das damalige Staatsoberhaupt, Bundespräsident Joachim Gauck, ausgeführt: ‚Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. „Dies trifft die Lage viel treffender. Unser Land kann helfen, unser Land kann viel helfen, aber wir können nicht allen helfen. Die Endlichkeit muss definiert, und dann auch umgesetzt werden“, erklärt der Fraktionschef der Freien Wähler. Die etablierten Parteien trügen in wechselnden Koalitionen die Verantwortung im Land und würden zum wiederholten Male auch die Verantwortung an den Umständen und Folgen einer ungeordneten Zuwanderung oder Flüchtlingsbewegung tragen. Es müsse zwischen Verfolgung und wirtschaftlichen Gründen unterschieden werden. Vor allem müssen aus Wickes Sicht Verfahren viel schneller gehen. Asylverfahren dauern viele Monate und Jahre. Bis eine Entscheidung getroffen ist, hätten sich Menschen integriert und eine Abschiebung löse dann neues Leid aus, so der Grebenauer Bürgermeister. Mit dem gleichen Geld was Flüchtlingsunterbringung in Deutschland kostet, könne in den Krisenregionen oder der direkten Nachbarschaft von Krisenregionen viel mehr und zielgenauer geholfen werden. Nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland könne dauerhaft überhaupt helfen. „Die Aussagen der Kreisspitze verwundern mich in ihrer Deutlichkeit, sind es doch die Verantwortlichen der gleichen Couleur die eine Überlastung der Kommunen durch frühzeitiges und nachdrückliches Handeln verhindert haben“, sagt Wicke und fragt, ob die kommunale Basis in den Parteizentralen nicht gehört wird.
Unterstützung von der AfD
AfD-Fraktionschef Gerhard Bärsch
„Landrat Görig und der Erste Kreisbeigeordnete Dr. Mischak schätzen die Gesamtlage absolut richtig ein. Sie beschreiben die aktuelle Situation in deutlichen, aber zutreffenden Worten“, erklärt AfD-Fraktionsvorsitzender Gerhard Bärsch. In Deutschland befinde man sich in einer multiplen Krisensituation. Die Migrationskrise, befördert durch Kanzlerin Merkels „Wir schaffen das!“, spitze sich im Moment wieder akut zu und nehme dabei Ausmaße an, die dem Jahr 2015 in nichts nachstehen. Aus Sicht von Bärsch müssen die Bürger die „Folgen dieser katastrophalen Politik“ ausbaden. Die AfD gibt Görig mit seiner Einschätzung, dass das System in Kürze vor die Wand gefahren wird, recht – viel mehr noch: Aus ihrer Sicht sei es bereits gegen die Wand gefahren. Man wolle den Aufprall jedoch nicht wahrhaben, geschweige denn das „Trümmerfeld“ einsehen. Viele hessische Kreise und Kommunen hätten bereits jetzt mehr Flüchtlinge aufgenommen als 2015 und 2016 zusammen. Es sei nicht damit zu rechnen, dass der Bund seine Flüchtlingspolitik neu ausrichtet. Neben den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, die oft dezentral in Wohnungen untergebracht sind, erlebe man einen stark ansteigenden Zustrom von Flüchtlingen aus Drittstaaten über die Balkan-Route. Das führe zu größeren Problemen. Die vom Kreis angemieteten Immobilien seien längst belegt. Es würden bereits wieder Wohncontainer aufgestellt und Leichtbauhallen errichtet, ein Ende des Zustroms sei nicht absehbar. „Auch der Vogelsbergkreis muss dauerhaft mit steigenden Flüchtlingszahlen und dadurch auch mit steigenden Problemen rechnen“, erklärt Bärsch. Die Belastungsgrenze der Kommunen sei mittlerweile erreicht, die der Aufnahmegesellschaft längst überschritten. Die Akzeptanz in der Bevölkerung für eine Politik der offenen Grenzen sei massiv gesunken. Diese Erkenntnis sowie die Probleme in der Umsetzbarkeit einer solchen Bundespolitik vor Ort hätten offenbar auch bei einigen politischen Verantwortungsträgern in den Kommunen zu einem Umdenken geführt. „Wenn Landrat Görig und Dr. Mischak nun aussagen, wir seien nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auch wenn dies von Bund und Land suggeriert werde, können wir dies nur unterschreiben“, erklärt Bärsch und kündigt an, dass die AfD einen, nach der Mitteilung des Landrats nur folgerichtigen Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU und SPD, einen vorläufigen „Aufnahme-Stopp von Flüchtlingen“ zu erwirken, unterstützen werde. Als Politik habe man die Verpflichtung, für das eigene Volk einzutreten, danach sei es eine Selbstverständlichkeit, auch anderen zu helfen. „Im jetzigen System werden die Sorgen und Nöte der deutschen Bürger, aus Sicht der AfD, nicht ernst genug genommen“, sagt Bärsch.
Grüne kritisieren Ausdrucksweise des Landrats für eigentlich berechtigte Anliegen
Die stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende Cornelia Bothe im Kreistag
Was die Kritik des Landrats an finanzieller und logistischer Unterstützung des Bundes betrifft, ist sie für die Kreistagsfraktion der Grünen nachvollziehbar. Hier scheint es, so sagen sie, als habe man nichts aus der Situation in 2015 gelernt. Es gebe keine verlässliche Kommunikation, die den Landkreisen eine vernünftige Planung und Kommunikation mit den Kommunen ermöglichen würde, und es fehle an einer verbindlichen und tragfähigen Finanzierung für notwendige Maßnahmen wie Container, Wasser, Kanal, Müll, Heizung, Strom für den Betrieb der Unterkunft, aber auch für Security, Versorgung mit Essen und medizinischen Gütern und Betreuung. Die mangelnde Bereitstellung von Liegenschaften des Bundes und die unzureichende Vorprüfung in Einrichtungen des Bundes kämen dazu. „Das ist ärgerlich und führt zur Frustration in den operativen Ebenen der Verwaltung und in der Bevölkerung. Jetzt in der Not wieder die Turnhallen und ohnehin knappen Wohnraum zu belegen, würde weiter zu Frust beitragen“, erklärt die stellvertretende Grünen-Fraktionschefin Cornelia Bothe im Auftrag von Fraktionsvorsitzender Udo Ornik. Das richtige Mittel seien vom Bund finanzierte Containerdörfer, die gleichzeitig Arbeitsplätze für Handwerk und Logistik sicherten. „Nicht in Ordnung ist, dass der Landrat und sein erster Beigeordneter Mischak Formulierungen nutzen wie ‚Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen‘. Diese bedienen den rechten Rand und spalten unsere Gesellschaft“, sagt Bothe. Es stehe nicht zur Debatte die „ganze Welt“ aufzunehmen und sei auch nicht Gegenstand der Forderung der Regierung, denn die habe Menschen aus der Ukraine, Afghanistan und Syrien Hilfe angeboten. Und nun stünden hauptsächlich Menschen aus diesen Ländern vor unserer Tür, die verfolgt und mit Bomben angegriffen werden, weil sie in ihren Ländern unsere Werte verteidigt haben. Die kommen jetzt und wollen unsere Hilfe, und wir müssen Wege finden, das zu organisieren. „Görig und Mischak sollten auf ihre Wortwahl achten, wenn sie eigentlich berechtigte Anliegen nach Berlin transportieren“, erklärt Bothe.
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Quelle→ Oberhessen-Live